Predigt vom 13. Juli 2003

St. Severin Garching

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Prediger:
Pfarrer Bodo Windolf


Thema: 
Dein Nächster - der ganz andere
Predigttext

St. Severin Garching
Predigt zum ökumenischen Gottesdienst am 13. Juli 2003

Les: Gen 4,1-16; Ev: Mt 22,34-40

Dein Nächster – der ganz andere

"Dein Nächster- der ganz andere." Ein seltsames Thema, das wir (der ökumenische Arbeitskreis) uns da ausgesucht haben; und ich vermute, dass Sie damit auch noch nicht allzu viel anfangen können. Um das Thema zu erschließen, möchte ich Sie auf einen kleinen Ausflug in die moderne Philosophie des 20. Jahrhunderts mitnehmen. (wobei ich hoffe, die Sache dadurch nicht zu verkomplizieren). Zuvor aber ein kleines Gedankenexperiment:

Vielleicht geht es Ihnen manchmal so wie mir, dass Sie folgendes überlegen: Ich für meine Person weiß, welche Gedanken ich habe, welche Gefühle, welche Versuchungen, kurz: wie mein Innenleben aussieht. Aber manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass es schön wäre, ich könnte einmal, vielleicht ganz kurz, so in einen anderen Menschen hineinsteigen, dass ich sein oder ihr Inneres selbst erleben würde – nicht aus Indiskretion, sondern um ihn oder sie besser zu verstehen. Und dann spüre ich sofort: Dies wird niemals geschehen. Hier ist eine unübersteigbare Schranke. Dieser Mitmensch da ist und bleibt ein ganz und gar anderer als ich. Auch wenn ich noch so sehr versuche, mich verstehend in ihn einzufühlen – nie werde ich er oder sie sein. Stattdessen gilt: Ich bin ich hier, und du bist du dort, als eine ganz und gar andere Person.

Doch nun die Frage: Wie begegne ich dir, wer auch immer du bist? Wer bist du für mich? Und wer bin ich für dich? Bist du vielleicht sogar meine Hölle, wie der französische Dichter und Philosoph Jean-Paul Sartre einmal ganz radikal formulierte? Und zwar, weil du allein schon durch deine Existenz meine Freiheit beeinträchtigst, weil du, einfach nur weil du bist, meiner Freiheit Grenzen setzt; mir ein Stück Welt stiehlst, nämlich jenes, das du für dich beanspruchst und das doch meines sein könnte; oder weil du möglicherweise einfach nur anders bist als ich mir dich wünsche; weil du anders denkst, anders lebst, anders betest, ja weil du mein potentieller Feind oder gar Henker bist?

Dieser erschreckend negativen Sicht des anderen Menschen möchte ich die Sicht eines weiteren Philosophen des 20. Jahrhunderts gegenüberstellen: die Emmanuel Lévinas`, 1906 geboren in Kaunas (Litauen), jüdischer Herkunft, dessen Philosophie um so erstaunlicher ist, als er selbst zwar als eingebürgerter französischer Soldat die deutsche Kriegsgefangenschaft überlebte, dessen ganze übrige Familie aber der Endlösung zum Opfer fiel. Nicht zuletzt aus der Erfahrung des Holocaust heraus kreist sein Denken vor allem um die eine Frage: Wie lässt sich verhindern, dass ich den anderen Menschen zu einer Funktion für mich mache, was im Extremfall zum Krieg gegen ihn führt. (zum Brudermord wie in der Lesung aus dem Buch Genesis). Seine Antwort lautet, sehr verkürzt zusammengefasst: Es gibt nur einen Weg dahin: Ich muss den anderen als absolut anderen anerkennen und respektieren. Noch mehr: Ich muss für ihn radikal Verantwortung übernehmen aus dem Ruf und Anruf heraus, der mir in seinem Antlitz entgegenleuchtet.

Das Antlitz des anderen Menschen, in dem mir der wortlose Anruf eben dieses Menschen entgegenleuchtet, ihn als anderen und als anders als ich anzuerkennen und für ihn Verantwortung zu übernehmen – diese ethische Forderung kann biblisch mit der heutigen Lesung so ausgedrückt werden: Auf die Frage Kains: Bin ich denn der Hüter meines Bruders?, will ich und werde ich nur eine Antwort geben: Ja, ich bin der Hüter meines Bruders und meiner Schwester, und ich bin bereit, als ein solcher auch zu leben.

Dabei sollten wir allerdings folgendes bedenken: Was Lévinas als einen "Humanismus des anderen Menschen" fordert, wie ein Buchtitel von ihm heißt, ist sicher um so leichter, je ferner und je weiter weg mir ein Mensch ist, und es wird um so schwerer, je näher er mir in seiner Andersartigkeit kommt. Die, die fern sind zu lieben – nach der Wort Schillers: "Millionen, seid umschlungen!" – ist kein Kunststück. Etwas ganz anderes ist es oft mit den Nahen und Nächsten; mit denen also, die mir in ihrer Andersheit, in ihrer Eigenart nahe treten: zum Beispiel mit ihrer anderen Hautfarbe, mit ihrer anderen Kultur, ihren eigenen Eß- und Lebensgewohnheiten, mit ihren anderen Ansichten und Meinungen, mit ihrem anderen Glauben, mit ihren je eigenen Macken, Ecken und Kanten. Doch gerade von ihnen, den Nächsten (im wörtlich verstandenen Sinn) sagt Jesus im Evangelium, dass wir sie lieben sollen wie uns selbst.

Was aber kann helfen, dass ich diesen oder jenen konkreten anderen Menschen – also nicht die anderen allgemein gesprochen, sondern diesen vielleicht nur einen konkreten Menschen da, den ich in seinem Anderssein nicht packe, nicht ertrage, den ich ablehne, mit dem ich nichts zu tun haben will, den ich vielleicht sogar hasse – was kann helfen, ihn, wenn er mir durch sein Nahetreten zum Nächsten wird, zu lieben wie mich selbst?

Ich sage Ihnen, was mir hilft, auch wenn es mir nicht immer sofort gelingt, in der Regel aber mit der Zeit. Mir hilft, mir bewusst zu machen, dass mir im Antlitz eines anderen Menschen immer auch das Antlitz des ganz Anderen, nämlich das Antlitz Gottes entgegen leuchtet. Mir leuchtet DER entgegen, dessen Bild im Antlitz dieses konkreten Menschen mir gegenüber abgebildet, eingezeichnet ist. Und mir hilft, durch all die äußeren Schichten eines Menschen hindurch auf den Grund seiner Seele zu schauen, hindurchzuschauen durch all das hindurch, was mir Schwierigkeiten bereitet auf jenes unversehrbare Heiligtum hin, das das Heiligtum seiner Würde als Abbild Gottes und als mein von Gott geliebter Mitmensch ist.

Bedeutet dieser Respekt, diese Achtung, ja vielleicht sogar Liebe zum Anderen als Anderen, dass ich alles was er denkt, redet und tut gutheiße oder zumindest gutheißen sollte? Nein! Ganz ohne Zweifel nicht! Wenn jemand etwas Falsches oder gar im Extremfall Verdammenswertes sagt oder tut, dann darf und soll ich das benennen, wenn nötig, es auch verdammen. Entscheidend ist, dass ich es, das heißt ein Denken, Reden, Tun, wenn nötig, auch verdamme, niemals aber ihn oder sie selbst. Das Urteil über eine andere Person als Person steht niemandem von uns zu, denn das hat sich der alleinige und letzte Richter von uns allen vorbehalten, Gott, der Gerechte und Barmherzige, der allein das Herz jedes Menschen kennt, besser als wir unser eigenes.

Den anderen als Anderen und Nächsten zu lieben wie mich selbst, die Andersheit des Ehepartners, die der Kinder, die der Nachbarn, die des Berufskollegen, die des politisch Andersdenkenden, die des anders Glaubenden, – hat nicht unbedingt etwas mit Sympathie zu tun. Die von Jesus geforderte Liebe wird oft die Gestalt annehmen, den anderen einfach zu ertragen, ihm freundlich und mit Achtung und Respekt zu begegnen, vielleicht auch, ihn so zu behandeln, wie ich ihn oder sie behandeln würde, wenn ich Sympathie hätte. Auf diese Weise könnte auf längere Frist hin aus dem bloßen Ertragen irgendwann vielleicht auch Wohlwollen und Liebe werden. Aber um das zu erreichen, braucht es oft einen langen Weg und viel Zeit, die wir uns allerdings auch zugestehen dürfen

Entscheidend ist, dass ich aus dem Bewusstsein lebe: Ja, ich bin der Hüter meines Bruders und meiner Schwester, wer auch immer er oder sie sei; und aus seinem oder ihrem Antlitz tritt mir der wortlose Anruf, die wortlose Bitte entgegen, ihn oder sie als andere Person unbedingt zu achten, zu respektieren und Verantwortung zu übernehmen.

Pfr. Bodo Windolf

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