Predigt vom 6. September 2009

St. Severin Garching

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Prediger:
Pfarrer Bodo Windolf,
St. Severin Garching 

Thema:

"Die 'Behinderungen' Nicht-Behinderter"
Predigttext

23. Sonntag i. J. 2009   6. September 2009

Die „Behinderungen“ Nicht-Behinderter – die Kunst des rechten Zuhörens und Redens

Wir alle können gar nicht ermessen, was es heißt, nicht hören und nicht sprechen zu können. Wie selbstverständlich ist es für uns, morgens die Vögel zwitschern zu hören, schöner Musik zu lauschen, zu verstehen, was ein anderer uns mitzuteilen hat. Wie selbstverständlich bedienen wir uns der Sprache, um uns zu verständigen, zu singen, mit anderen bekannt zu werden usw.

All das ist einem taubstummen Menschen, von dem im Evangelium die Rede ist, nicht möglich. Wie großartig und schön so vieles in unserem Leben ist, erfahren wir oft erst, wenn wir es selber entbehren müssen oder mit Menschen konfrontiert werden, denen es versagt ist. 

Trotz solcher Gedanken könnte man sich fragen: Was geht uns eigentlich ein Begebenheit wie die im Evangelium gehörte an? Wir alle können hören, wir können sprechen, einer solchen Heilung bedürfen wir nicht, also was soll`s?

Versuchen wir also, ein wenig tiefer zu bohren. Immer wieder, wenn das Thema auf behinderte Menschen kommt, fällt mir ein Satz ein, den ich bei Henri Nouwen gelesen habe. Henri Nouwen war Professor für Pastoraltheologie und Spiritualität an der Yale- und Havard- University in Amerika. 1986 gab er seinen Lehrstuhl und seine Karriere auf, um sich der von Jean Vanier gegründeten „Arche- Bewegung“ anzuschließen, ein Projekt, bei dem gesunde und behinderte Menschen zusammenleben. In einem seiner Bücher mit dem Titel „Adam und ich“ beschreibt er unter anderem, wie er durch den schwerstbehinderten Adam, der weder sprechen noch überhaupt etwas selbständig tun konnte, seine eigene Behinderungen entdeckte. Ich will eine kleine Passage zitieren:

„Doch es ging noch etwas anderes mit mir vor. Das Leben in der Nähe zu Adam und den anderen brachte mich auch meinen eigenen Verwundungen näher. Während es zuerst ziemlich schien, wer behindert war und wer nicht, ließ das tägliche gemeinsame Leben die Grenzen verschwim­men. Adam, Rosie und Michael konnten nicht sprechen, hingegen sprach ich zu viel. Adam und Michael konnten nicht gehen, hingegen rannte ich umher, als würde das Leben nur noch aus dringenden Fällen bestehen. Ja, John und Roy brauchten Hilfe bei ihren täglichen Aufgaben, aber dasselbe galt ständig auch für mich. „Helft mir, helft mir!“ Und als ich den Mut besaß, etwas in die Tiefe zu sehen und mich mit meinen emotionalen Bedürfnissen, meiner Unfähigkeit zu beten, meiner Ungeduld und Unrast, mei­nen vielen Ängsten und Befürchtungen zu beschäftigen, erhielt das Wort „Behinderung“ bald eine völlig neue Bedeutung. Die Tatsache, dass meine Behinderungen weniger sichtbar waren als die Adams und seiner Hausgenossen, ließ sie nicht weniger vorhanden sein.“ 

Übertragen wir dies auf unseren Evangelienabschnitt, zunächst auf das Hören: Vermutlich gibt es eher wenig Menschen, die sich auf die Kunst des Zuhörens verstehen. Wie viele Menschen sind taub für die oftmals auch leisen Signale eines Mitmenschen: des Ehepartners, der eigenen Kinder, eines Kollegen, einer Kollegin, und vieler anderer. Wie viele Menschen sind taub, immer schon taub gewesen oder aber auch taub geworden für das Wort jenseits der menschlichen Wörter, für Gottes Wort, für Gott selbst, für das, was Er mir zu sagen hat, ich aber nur in der Stille und im inneren Zuhören zu vernehmen vermag.  

Ebenso das Reden und Sprechen. Von wie viel Geschwätz und Geschwätzigkeit ist unsere Welt erfüllt, von Tratsch, bösem Gerede über andere, Lüge, Verleumdung. Die Wortverbindung „taub-stumm“ macht deutlich, dass die Behinderung des Sprechens von der Behinderung des Hörens kommt. Nur der – und dies ist ja auch der medizinische Sachverhalt, den wir aber auch auf uns übertragen können – der recht zu hören vermag, vermag auch richtig zu reden. Rechtes Sprechen kommt von rechtem Hören. Dies drückt ein tiefes indianisches Sprichwort aus: „Hör zu, sonst macht dich deine Zunge taub!“ Reden, viel Reden, Reden, bei dem jemand das Gespräch ständig an sich reißt und sich vorzugsweise alles um ihn dreht, Reden, das anderen ständig ins Wort fällt, sie nicht zu Ende sprechen lässt, Kurz: Reden, das nicht aus dem vorherigen Zuhören kommt, macht taub. 

Diese Beispiele, die beliebig vermehrbar sind, zeigen, wie auf einmal das Wort „Behinderung“ eine ganz neue Bedeutung bekommt. Wie viele Menschen sind in diesem Sinn in der Tat behindert, oftmals noch viel mehr, als ein nur körperlich Taubstummer; taub und in der Folge taubstumm gegenüber dem Anruf Gottes und gegenüber dem Anruf der Mitmenschen. 

Diese Art von Behinderung – und wir alle sollten prüfen, wo ich selbst davon betroffen bin – will Gott in uns heilen. Den Anfang hat Er gemacht bei unserer Taufe. So wie Jesus im Evangelium hat damals der Priester uns an Ohren und Mund berührt und das Wort „Effata“ aus der aramäischen Muttersprache Jesu gesprochen: „N., der Herr lasse dich heranwachsen, und wie er mit dem Ruf ‚Effata’ dem taubstummen die Ohren und den Mund geöffnet hat, öffne er auch dir Ohren und Mund, dass du sein Wort vernimmst und den Glauben bekennst zum Heil der Menschen und zum Lobe Gottes.“

Hören, zuhören lernen und von da aus richtig sprechen lernen, nicht zu viel, nicht zu wenig, nicht zu geschwätzig – wie viele Worte sind absolut überflüssig oder wären besser nie ausgesprochen worden – das ist ein großer und überaus wichtiger Anspruch an uns als Christen, als Getaufte. So gesehen geht uns das heutige Evangelium sogar sehr viel an. 

Pfr. Bodo Windolf

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